Grundlagen-Papier Angewandte Hermeneutik 07 (27. Juni 2022)
1. Begründung und Definition des Themas
1.1 Definition und institutioneller Rahmen
Das interdisziplinäre, fakultätsübergreifende Projekt „Angewandte Hermeneutik fremdkultureller Inhalte“ stellt den Prozess der hermeneutischen Erschließung und (didaktischen) Applikation fremdkultureller Inhalte wie Texte, Themen und nichtsprachliche Artefakte auf eine breite, interdisziplinär angelegte Grundlage, arbeitet sie mittels historischer, exegetischer, sprach- und sozialwissenschaftlicher, empirischer, didaktischer und kunstgeschichtlicher Zugänge methodisch auf und vermittelt sie in dafür geeigneten Formaten den Studierenden der Bergischen Universität Wuppertal. Das Projekt ist ein Aushängeschild der Wuppertaler Lehrer- und Weiterbildung.
1.2 Motivation und Kernanliegen
Das Verstehen fremdkultureller Welten, ihrer Traditionen, Themen und Artefakte vollzieht sich in Sprache, aber auch in nicht-sprachlichen Ausdrucksformen (Tanz, Musik, Kunst, Theater, bildende Kunst etc.). Das Verstehen fremdkultureller Inhalte ist eine anspruchsvolle, unabdingbare hermeneutische Grundaufgabe für alle, die den Inhalt fremdkultureller Inhalte an heutige Menschen zu vermitteln haben.
Beispiel: Im Bereich von Theologie und Kirche gibt es das Phänomen des „Traditionsabbruchs“. Vertrautheit mit biblischer Sprache kann heute nur noch bei einer Minderheit der Theologiestudierenden vorausgesetzt werden. Das bedeutet, dass die Bedeutung von Themen und Grundbegriffen des christlichen Glaubens und der Bibel aufwändig erschlossen werden muss. Dazu gehören zum einen eine sozial- und begriffsgeschichtliche Analyse der Begriffe in ihrem jeweiligen historischen Kontext und zum anderen die empirische Erschließung von potenziellen heutigen Lebensweltbezügen zu diesen Begriffen und Themen.
1.3 Teilnehmende Fächer, Personen und Institutionen
Tangiert sind erstens Fächer, die das Verstehen und Vermitteln sprachlicher Inhalte zum Gegenstand haben (Geschichte, Latinistik, Philosophie, Theologie, Editionswissenschaft sowie Philologien wie Germanistik, Anglistik, Amerikanistik und Romanistik mit ihren jeweiligen Literaturwissenschaften / Literaturgeschichten und Erzählforschung. Zweitens sind Fächer angesprochen, die das Verstehen und Vermitteln außersprachlicher Artefakte zum Gegenstand haben (Archäologie, Architektur, Kunst / Kunstgeschichte, Musikwissenschaft, Design, Mediendesign). Drittens betrifft das Projekt Fächer, die das Verstehen und Vermitteln fremdkultureller Inhalte sprachlicher und außersprachlicher Art gleichermaßen zum Gegenstand haben (Soziologie, Bildungswissenschaften).
Teilnehmende Personen und Interessenten (Stand 27.6.2022):
- Anglistik / Amerikanistik: Birgit Spengler
- Evangelische Theologie: Alf Christophersen; Kurt Erlemann; Christhard Lück, Angelika Michael; Thomas Wagner, Martin Grassi
- Katholische Theologie: Michael Böhnke; Norbert Brieden; Uta Poplutz, Astrid Heidemann
- Kunstpädagogik: Jochen Krautz
- Latinistik: Stefan Freund; Stefan Weise
- Germanistik: Michael Scheffel
- Geschichte: N.N.
- Musik: Thomas Erlach; Felix Helpenstein
- Philosophie: Klaus Feldmann
- Romanistik: Matei Chihaia
- Soziologie: Ludgera Vogt; Hans-Joachim Lietzmann, Doris Bühler-Niederberger
- Architekturgeschichte: Christoph Grafe
- Kunst und Design: Ulrich Heinen
Kooperation mit dem Zentrum für Fort- und Weiterbildung (ZWB): Gabriele Molzberger; André Kukuk
Anzufragen sind VertreterInnen der Kirchen und Schulen sowie weitere Bildungseinrichtungen in Wuppertal und Umgebung (ab Sommer/Herbst 2022).
2. Abgrenzungen
Das Thema hat weitreichende interdisziplinäre Implikationen und lässt sich nach außen hin nicht scharf abgrenzen. Eine solche Abgrenzung ist aber methodisch und praktisch geboten. Sie betrifft folgende Punkte:
1. Die Wirkungs- und Auslegungsgeschichte der fraglichen Texte, Themen und außersprachlichen Artefakte kann nicht enzyklopädisch erfasst werden, sondern nur in Bezug auf bestimmte, klar definierte Leitkriterien:
- Es geht um ein aktualisierendes Verstehen und um aktualisierende Vermittlung mit Relevanz für gesellschaftlich-kulturelle Gegenwartsfragen
- Es geht um die Erschließung sprachlicher und außersprachlicher Formen der Vermittlung in ihrem jeweiligen sozialhistorischen Kontext
- Es geht mithin um die gesellschaftliche Relevanz der fraglichen Texte, Themen und Artefakte
2. Das Projekt zielt auf Verstehens- und Vermittlungskompetenz von Personen, die an den Nahtstellen verschiedener Kulturräume arbeiten. Das betrifft diachron Vermittlung historisch-fremdkultureller Inhalte in schulischen und außerschulischen Bildungseinrichtungen (Schulen, Erwachsenenbildung, Kirche, Museen, Bildungstourismus…) und es betrifft synchron die Vermittlung aktuell-fremdkultureller Inhalte in der Zivilgesellschaft (Stichwörter: culture clash, Schlichtungsverfahren, (kommunal)politische Mediationsprozesse, Genderfragen, Parallelgesellschaften, Verschwörungsmythen, fake news…).
3. Perspektiven / Einzelaspekte
1. Das Thema ist zum einen literarisch-wirkungsgeschichtlich ausgerichtet: Welche Aktualisierungen der betreffenden Texte, Themen und Begriffe sind im Verlauf der Geistesgeschichte erkennbar? Was sind Leitkriterien für Übersetzungen und Übertragungen in die je aktuelle Rezeptions-Situation? (Stefan Freund: Was passiert eigentlich beim Übersetzen? Welche Entscheidungen trifft der Übersetzer beim Übersetzen?)
2. Das Thema ist zum anderen kunsthistorisch ausgerichtet: Welche Rezeptionsformen nicht-sprachlicher Artefakte (Musik, Kunst, Tanz, Architektur, Design etc.) sind im Verlauf der Rezeptionsgeschichte erkennbar und welche Leitkriterien einer nicht-sprachlichen, künstlerischen Umsetzung sind auszumachen? (Michael Böhnke; vgl. Thomas Erlach, Felix Helpenstein)
3. Das Projekt will einen eigenständigen Beitrag zur literarischen, künstlerischen und didaktischen Rezeption antiker Texte, Themen und Artefakte leisten [Beispiel: Das Verhältnis von Religion (theologische Hermeneutik) und Kunst (Ästhetik) und auch Moral (Ethik) (Alf Christophersen); hermeneutische Transformationsprozesse in historischer Betrachtung (z.B. griechische Philosophie / Literatur in Rom, Auseinandersetzung und Synthese von Antike und Christentum, die Antike als Interpretament der Gegenwart im Humanismus) (Stefan Freund; vgl. Armin Eich)].
4. Das Projekt will die Verstehens- und Vermittlungskompetenz von Menschen in sensiblen Berufszweigen stärken, indem es das Verständnis historischer Texte, Themen und Artefakte in ihrem jeweiligen historischen Kontext fördert (diachroner Aspekt) und indem es das Verständnis für als (genuin) fremd wahrgenommene Kulturen in der Gesellschaft mit dem inhärenten Potenzial von Missverstehen und Konflikten steigert (synchroner Aspekt). Nur auf der Grundlage eines reflektierten, vertieften Verständnisses des jeweils als „fremd“ erfahrenen Anderen ist eine erfolgreiche Vermittlungsarbeit möglich.
5. Mögliche Berufsfelder sind: Jobs im Bereich interkultureller Vermittlung bzw. Integration und Mediation (insbesondere Kulturbüros von Städten und Kommunen, Tourismus, Denkmalschutz, politische und andere Stiftungen, Erwachsenenbildung, Akademien) sowie Jobs im Bereich von Museen, Konzert- und Opernhäusern, Verlagswesen, Journalismus und im Lehramt.
4. Methodik
1. Für den diachronen Aspekt ist eine wirkungsgeschichtliche Analyse früherer Rezeptionsansätze, Übersetzungen und Aktualisierungen der in Frage kommenden Texte, Themen und Artefakte erforderlich: Wer hat sie wann zu welchem Zweck und mit welchen Mitteln vorgenommen? Was waren Leitkriterien rezeptionsorientierter Übersetzungen, Übertragungen und Re-designings?
2. Für eine erfolgreiche Vermittlungsarbeit braucht es zum einen eine empirisch-soziologische Grundlegung, um aktuelle Rezeptionsbedingungen erfassen und in die Vermittlungsarbeit einbeziehen zu können. Zum anderen braucht es die exegetische Arbeit an den betreffenden Themen, Texten und Artefakten unter Einbezug ihrer bisherigen Wirkungsgeschichte (synchroner Aspekt).
5. Einzelprojekte
Hieraus ergeben sich folgende Einzelprojekte:
1. Analyse früherer Übersetzungen / Übertragungen / nicht-sprachlicher hermeneutischer Rezeptionsformen
2. Empirisch-soziologische Einzelstudien zu heutigen Rezeptionsbedingungen
3. Entwicklung didaktischer Umsetzungsmöglichkeiten im Schulunterricht / in der Erwachsenenbildung
4. Entwicklung eines Netz-gestützten Pools an konkreten Handreichungen für Lehrkräfte, Pastoren etc.
5. Entwicklung eines (eigenständigen?) (zwei-Fach?)-Masterstudiengangs zum Thema
6. Erstellung eines analogen oder digitalen Sammelwerks zu den fraglichen Themen und Begriffen
7. Analyse der so genannten „Missionarslinguistik“ (Registraturen wie Grammatiken von beispielsweise afrikanischen indigenen Sprachen durch Missionare, aber auch und v.a. die Übersetzung der Bibel in diese Sprachen und die daraus resultierenden Herausforderungen bei ihrer Vermittlung (oder eben: Auslegung, Interpretation … Hermeneutik) insbesondere in der Hochzeit des deutschen Kolonialismus (1850-1910) (B. Arich-Gerz, B. Kellermeier-Rehbein).
8. Analyse der Übersetzung biblischer Themen in aktueller Literatur (bes. Kinder- und Jugendliteratur; Norbert Brieden?)
9. Konkrete historische hermeneutische Prozesse als Interessengebiet (Beispiel: Die Übersetzung des griechischen NT ins Alltagslatein im frühen Mittelalter als bewusste hermeneutische Entscheidung, die fremd wirkenden Begriffe an die Alltagssprache der Menschen heranzuführen, Stefan Freund).
6. Organisationsform und Zeitplan
Stand 2019: Nach intensiven Vorgesprächen mit Vertretern der genannten Disziplinen soll in einem anvisierten Zeitrahmen von ca. 5 Jahren ein Tableau von geeigneten Lehrveranstaltungen erstellt werden, die gegebenenfalls in einen eigenständigen Master-Studiengang integriert werden können (Aspekt der Lehre). Darüber hinaus sollen gemeinsame Forschungsprojekte zum Profilbereich entstehen, die zum Beispiel in einem Sammelwerk zur „Angewandten Hermeneutik“ sowie in einzelnen empirisch, didaktisch oder historisch-exegetisch zugeschnittenen Dissertationsprojekten münden könnten (Aspekt der Forschung). Auch eine digitale Plattform, in die Ergebnisse der Projekte eingespeist werden können und / oder das als Forum für Anregungen und Diskussionen einzelner Aspekte genutzt werden kann, ist angedacht (Aspekt der Digitalisierung).
Außeruniversitäre Vernetzung: Die Kirchenkreise, Schulen und (Erwachsenen-)Bildungseinrichtungen in der Region sind natürliche Ansprech- und Kooperationspartner für den Profilbereich. Die Erkenntnisse des Projekts haben einen unmittelbaren Nährwert für die kirchliche Verkündigung sowie für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit.
Zusatz 18.2.2022: Die Frage einer institutionellen Verankerung des Projekts wird inzwischen unabhängig von der Frage eines konkreten MA-Studiengangs diskutiert. Weitere Optionen sind: Optionalbereich, Fort- und Weiterbildung, Studium Generale / Ringvorlesung, Einrichtung eines „Zentrums für Angewandte Hermeneutik“. Begleitend werden Gastvorträge zum gemeinsamen Thema eingeworben und organisiert.
Zusatz 27.6.2022: Im Sommersemester 2023 wird in Kooperation mit dem ZWB eine Ringvorlesung zum Thema "Fakten. Propaganda. Fake News. Was können wir noch glauben?" stattfinden.